Anmerkungen von Alice Rohrwacher
LAZZAROS
Ich bin oft solchen Menschen begegnet, in meinem Land, guten Menschen, die sich aber selten selbst so sehen, da sie mit diesem Begriff gar nichts anfangen können. Ich habe solche „glückliche Lazzaros“ getroffen, Menschen, die einfach gut sind. Sie bleiben im Hintergrund, wann immer es möglich ist, sie nehmen sich zurück, um nicht zu stören, um den anderen Raum zu geben. Sie drängen sich nicht vor, sie wissen gar nicht, wie das geht. Es sind diejenigen, die am Ende oft die undankbarste Arbeit übernehmen, über die andere die Nase rümpfen, und sie werden nicht wahrgenommen.
Ohne dass es ihre Absicht wäre, passiert es dann manchmal doch, dass ein Lazzaro Teil einer Geschichte wird. Irgendeiner, ein Passant, ein Ladenbesitzer, ein junger Aufsteiger, ein Rentner oder wer auch immer bemerkt ihn, betrachtet ihn mit Skepsis, versteht sein Verhalten vielleicht falsch und brüllt los: „Der war es! Der ist gefährlich!“
Denn irgendwie ist dieser Gang ja tatsächlich etwas seltsam, dieses Schweigsame, diese ganze Art ... Und plötzlich übernimmt das Misstrauen die Überhand, die Angst. Ein Lazzaro kann sich nicht gegen falsche Anschuldigungen verteidigen. Er schaut nur ungläubig, während man ihn packt, verletzt und verjagt.
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Helden UND HEILIGE
Die Literatur und die Filmgeschichte sind voll von Figuren, die sich auflehnen, die gegen das Unrecht kämpfen, die die Welt verändern wollen und zu Helden werden. Ein Lazzaro aber kann die Welt nicht verändern. Seine innere Größe ist unscheinbar. Wir stellen uns Heilige oft stark, durchsetzungsfähig und mit einer gewissen Aura vor. Ich denke aber, dass es nicht die Aura ist, die einen Heiligen ausmacht. Tauchte ein Heiliger heute in unserem Leben auf, würden wir ihn wahrscheinlich in seinem für unsere Erfahrung viel zu selbstlosen Wesen gar nicht erkennen. Wir würden ihn vermutlich, ohne groß darüber nachzudenken, loswerden wollen. Er ist so ungewöhnlich, so naiv, dass man ihn für verrückt halten könnte, für einen Dummkopf. Während die Anderen immerzu nach Veränderung rufen und dabei nur an der Oberfläche kratzen, ist er unbeirrbar in seiner Gutmütigkeit.
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Das „Italienische“ der Geschichte
Mit den Erlebnissen von Lazzaro wollte ich so unaufdringlich wie möglich, mit Liebe und Humor von den verheerenden Veränderungen erzählen, die Italien erfahren hat, vor allem der Übergang von einem materiellen Mittelalter zu einem menschlichen Mittelalter: Das Ende der Agrargesellschaft, die Migration der Menschen vom Land an die Ränder der Städte, deren Modernität ihnen fremd war: Menschen, die das Wenige, das sie hatten, zurückließen und dann noch weniger hatten. Eine staubige, verdreckte Welt der Ausbeutung kommt an ihr Ende und legt sich in der Stadt ein viel saubereres, attraktiveres Gesicht zu.
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DIE GLEICHZEITIGKEIT DES UNGLEICHZEITIGEN
Ohne es zu wissen, reist Lazzaro durch die Zeit und betrachtet die Gegenwart mit seinen großen freundlichen Augen wie ein schwieriges Rätsel. Warum eine Zeitreise? Beim Blättern in einem Geschichtsbuch reiht sich eine Epoche an die nächste, die sich von der vorangehenden unterscheidet, ihr aber auch ähnelt. Als ich zur Schule ging, wollte ich immer das Buch nehmen und schütteln, um die Seiten zu mischen. Das Kino lässt das auf eine gewisse Art möglich werden.
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Die WIRKLICHE MARQUESA und der grosse betrug
Als Inspiration für den Film diente mir die wahre Geschichte einer Marchesa aus dem Zentrum Italiens, die die Abgeschiedenheit ihrer Ländereien nutzte, um ihren Bauern die Information über die Abschaffung der Naturalpacht vorzuenthalten. Als der italienische Staat 1982 alle noch bestehenden Halbpacht-Verträge in ordentliche Pacht- oder Lohnarbeitsverträge umwandelte, machte die Gräfin weiter, als sei nichts geschehen. Die Landarbeiter lebten noch einige Jahre nach der Abschaffung der Naturalpacht in sklavenähnlichen Verhältnissen.
Die Geschichte dieser Landarbeiter hat mich sehr berührt. Sie haben ihren Moment in der Geschichte verpasst, er wurde ihnen geraubt. Sie konnten nicht Teil der Veränderungen werden, sondern nur noch die Scherben des Umbruchs aufsammeln. Für die Öffentlichkeit war diese Geschichte eine Randnotiz, die am nächsten Tag schon wieder vergessen war. Bei den Bauern aber erinnert bis heute ein Zeitungsartikel an der Wand als vergilbter Beweis an eine zerbrochene Welt, die sie abgehängt hat. „Il gran inganno – Der große Betrug!“
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Realismus UND Märchen
Mehr noch als in meinen bisherigen Filmen wollten wir bei „Glücklich wie Lazzaro“ mit dem Genre des Märchens experimentieren, mit seinen Rätseln, Widersprüchen, wundersamen Begebenheiten, seinen guten und schlechten Figuren. Nicht im Sinne eines Gleichnisses oder einer Verheißung übermenschlicher und rätselhafter Abenteuer: Das Märchenhafte dient hier als Bindeglied zwischen der Realität und einer anderen Ebene der Wahrnehmung. Denn Symbole entspringen dem Leben, sie sind so vielschichtig und umfassend, dass sie für das Leben aller stehen können, für ein Land wie Italien und dessen Veränderung. Es geht um die immer gleiche Geschichte vom Neuanfang, vom Phönix aus der Asche, von der Unschuld, die uns trotz allem immer wieder begegnet und beschäftigt.
Die Figuren und Begebenheiten sind zugleich realistisch und märchenhaft, so wie die Orte zugleich fast naturalistisch und fantastisch sind: Auf der einen Seite liegen die abgeschiedenen Felder, die nach dem Einsturz der einzigen Brücke vom Rest der Welt getrennt sind.
Hier liegt das Dorf Inviolata, das letzte Bollwerk der Macht der Zigarettenkönigin, der Marchesa Alfonsina de Luna, die jeden Sommer eine waghalsige Flussüberquerung auf sich nimmt, um auf ihrem Landsitz dem Glanz der alten Zeiten zu frönen. Und auf der anderen Seite liegt die große Stadt, in der die Zeit atemlos schnell vergangen zu sein scheint.
Die Drehorte in ITalien
Wir haben den Film im Sommer und Winter 2017 gedreht. Der erste Teil entstand in der Gegend um Viterbo zwischen Vetriolo und Bagnoregio und in Castel Giorgio bei Terni, der zweite zwischen Mailand, Turin und Civitavecchia. Wie können diese weit voneinander entfernten Orte die gleiche Gegend darstellen? In Italien wird die Trennlinie normalerweise zwischen Norden und Süden angesetzt. Ich glaube aber, dass sie sich verschoben hat und heute zwischen Innen und Außen, zwischen den Städten und Küsten und den Bergregionen verläuft. Die Menschen migrieren von einer isolierten Gegend in eine zentralere, sie bewegen sich nicht mehr nur auf der Nord-Süd-Achse, sondern in alle Richtungen: quer, schräg, horizontal, wodurch ein immer komplexeres Netz entsteht.
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DrEhen auf Super-16-film
Wie in unseren bisherigen Filmen haben wir nicht digital, sondern auf Film im Super-16-Format gedreht. Bei dieser Entscheidung geht es nicht um Stilisierung oder gar Nostalgie, sondern vor allem um den Arbeitsprozess. Beim Dreh sind alle hochkonzentriert, jeder ist auf seine Aufgabe fokussiert. Nichts wird dem Zufall überlassen, alles ist sorgfältig geplant und vorbereitet, mit dem Ziel, es am Ende so mühelos wie möglich aussehen zu lassen. Aber auch wenn wir eine Szene viele Male vorher proben, birgt der Moment, in dem sie auf Film gebannt wird, auf eine rätselhafte Art etwas Unvorhersehbares, etwas Magisches. Es gibt keine vollständige Kontrolle.
Das Ergebnis ist immer eine Mischung aus dem Eigenleben der Filmrolle, die belichtet wird, und der Dynamik, die wir beim Drehen erlebt haben. Diese Langsamkeit, das Warten auf die Muster, die Ungewissheit, der Rest an Unwägbarkeit sind meinem Empfinden nach Teil der Intensität und der Bilder. In einer Zeit, in der wir mit reproduzierten und reproduzierbaren Bildern bombardiert werden, kann der analoge Film auswählen, sich Zeit nehmen, nachdenken, mit dem Blick spielen: Überraschen und überrascht werden.